Über Geschichten am Lebensende erzählen
«Erzählen über Sorgekulturen am Lebensende – SoKul» nennt sich ein partizipatives Forschungsprojekt des Instituts für Pflegewissenschaft der Uni Wien und des Vereins Sorgenetz. Menschen verschiedener Altersstufen haben in Erzählcafés persönliche Erfahrungen rund um Sterben, Tod und Trauer miteinander geteilt. Da kann man was erleben … Gert Dressel – Beirat des Netzwerks Erzählcafé -, Katharina Heimerl, Evelyn Hutter, Barbara Pichler und Elisabeth Reitinger vom Projektkernteam berichten darüber.
Wir geben es zu: Manche von uns waren vorher durchaus unsicher. Kann das gut gehen: In Erzählcafés über eigene Erfahrungen rund um Sterben, Tod und Trauer erzählen? Werden da nicht womöglich inzwischen verheilte Wunden wieder aufgerissen? Und wie agieren wir dann als Moderator:innen? Haben wir dafür überhaupt die Kompetenzen?
Und dann so etwas: Die ersten Erzählcafés finden im Wiener Caritaszentrum für Sozialberufe mit Schüler:innen der Fachsozialbetreuung-Altenarbeit, wie das in Österreich heisst, und im FH Campus Wien mit Studierenden der Gesunden- und Krankenpflege statt. Bevor sie selbst einmal die Moderationsrolle üben werden, erzählen die Schüler:innen und Studierenden über ihre Erfahrungen. Wir sind überrascht, bewegt und berührt, wie die jungen Menschen Erlebnisse und Geschichten zum Lebensende miteinander teilen: zum Beispiel über den frühen Tod des Bruders oder der besten Freundin oder übers Nicht-Trauern-Dürfen nach dem Versterben der Grossmutter. Es fliessen Tränen, die Schüler:innen und Studierenden zeigen einander mit100 kleinen und zugleich grossen Gesten, dass sie füreinander da sind. An anderen Stellen der Erzählcafés wiederum wird viel miteinander gelacht. Und auch wir, die moderieren, erzählen mit – und verdrücken die eine oder andere Träne. Wir schwingen mit. In der nachträglichen gemeinsamen Reflexion wird hervorgehoben, wie wertvoll, reinigend und verbindend diese gemeinsame Erzähl- und Zuhörerfahrung gewesen ist, und wie gut es tut, dass auch jenen, die ansonsten zuhören und Sorge geben, einmal zugehört wird.
Wie in einem Brennglas
Einzelne von uns moderieren schon seit vielen Jahren Erzählcafés und ähnliche narrative Formate. Aber wie nur selten sonst ist bei diesen Erzählcafés mit Geschichten rund ums Lebensende wie in einem Brennglas deutlich geworden, was Erzählcafé bewirken können.
Wir möchten kurz über Ulrike erzählen. Ulrike, die schon seit vielen Jahren in Pension ist, nimmt an einem der Erzählcafés teil. Lange ist Ulrike still, hört den Geschichten der anderen zu, um schliesslich mit bewegter Stimme sehr kurz über ein eigenes Erlebnis zu erzählen: «Mir ist mein dritter Sohn gestorben, mit zwei Monaten, und mein Problem bis heute: Ich durfte nicht trauern, man hat mir das Trauern verboten. Das ist schon fünfzig Jahre her. Es tut noch immer weh.» Im Nachklang meint Ulrike: «Ich war sehr überrascht, dass ich so offen über sehr persönliche Dinge gesprochen habe. (…) Ich habe gespürt, da ist eine Runde, die ist sehr achtsam, und da passiert mir nix Grausliches. Da war sehr viel liebevolles Tun und ein gutes Annehmen, und daher habe ich mich offensichtlich hervorgetraut.» Eine andere Teilnehmerin meinte, Erzählcafés seien ein «blamagefreier Raum».
In Erzählcafés bekommen die Erzählenden (zumindest ungefragt) keine Kommentare, Ratschläge oder Lösungsvorschläge, sondern es wird «nur» zugehört. Genau das spürte und schätzte Ulrike, denn ihr ging es gar nicht um das Finden einer Lösung, aber mit dem Erzählen und dem Gehört-werden konnte sich in ihr etwas lösen.
Weitere Infos auf der Projektwebsite
Film über SoKuL von Dorothea Kurteu
Das Projektteam dankt all seinen Kooperationspartner:innen und dem österreichischen Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung, das im Rahmen der Programmschiene OeAD – Sparkling Science 2.0 das Projekt von Oktober 2022 bis Oktober 2025 fördert.