Erzählcafés: Die Anfänge
Zum zehnjährigen Bestehen des Netzwerks Erzählcafé werfen wir einen Blick zurück auf die Ursprünge dieses besonderen Formats.
Von Evelyne Mertens*
In den 1970er- und 1980er-Jahren entstanden die Erzählcafés in einem gesellschaftlichen Umfeld, das von tiefgreifenden Veränderungen geprägt war: Fortschritte in der politischen und rechtlichen Gleichstellung – etwa bei der Familienrechtsreform, den Frauenrechten oder dem Zugang zu Universitäten – schufen neue Freiräume. In Deutschland, Österreich und der Schweiz formierte sich eine aktive Zivilgesellschaft mit ökologischen, feministischen und pazifistischen Bewegungen, begleitet von bildungspolitischen Reformen. Ziel vieler Initiativen war es, den Geschichten der «kleinen Leute» eine Stimme zu geben – als Ausdruck kollektiver Selbstermächtigung.
Anfang der 1980er-Jahre entstanden in Deutschland und Österreich erste Projekte zum Austausch biografischer Erzählungen. Bereits 1978 trafen sich Bewohnerinnen und Bewohner des Recklinghausener Stadtteils Hochlarmark (Ruhrgebiet), um in Gesprächen, persönlichen Aufzeichnungen, Fotos und Archivmaterial die Geschichte ihres Quartiers zu rekonstruieren. Diese Treffen sollten ein besseres Zusammenleben und das Verständnis sozialer und kultureller Unterschiede fördern. Auch in Frankfurt am Main und Karlsruhe wurden Erzählcafés in partizipative Stadtentwicklungsprojekte integriert, um die Bedürfnisse der Bevölkerung kennenzulernen, lokales Wissen zu bewahren und die Menschen aktiv in Veränderungsprozesse einzubeziehen. Bald schon reichte die Idee über den historischen oder bildungspolitischen Rahmen hinaus – sie verband Gruppen aus Ost- und Westdeutschland in der Zeit der Wiedervereinigung.
Von Beginn an ging es beim biografischen Erzählen in Gruppen nicht nur um die Rekonstruktion von Vergangenheit, sondern auch um das gegenseitige Verstehen, das Zuhören und den Blick nach vorne. Die Erzählcafés verstanden sich nie als therapeutisches Instrument, sondern als offene Räume, in denen jede und jeder erzählen und zuhören kann.
Im Frühjahr 1982 organisierte die Volkshochschule Ottakring in Zusammenarbeit mit der Universität Wien die Veranstaltungsreihe «Ich kam vom Land in die Stadt». In diesen intergenerationellen Gesprächsgruppen tauschten ältere Menschen und Studierende ihre persönlichen Geschichten aus – mit dem Ziel, die Vielfalt des Alltagslebens sichtbar zu machen. In mehreren Regionen Niederösterreichs richtete der Verein «Verein für erzählte Lebensgeschichte» bis 1988 neunzehn moderierte Gesprächsgruppen ein, die speziell älteren Frauen gewidmet waren. Am 5. September 1987 fand schliesslich im Berliner Stadtteil Wedding das erste Erzählcafé unter dieser Bezeichnung statt – initiiert von Sabine Gieschler und Andreas Lange als öffentliche Veranstaltung.
In den 1990er-Jahren etablierte sich der Begriff des biografischen Arbeitens. Erzählcafés und Gesprächskreise wurden zu zentralen Methoden dieser Praxis. Parallel dazu entwickelte sich die Oral History – eine «Geschichte von unten», die das Alltagswissen von Frauen, Arbeiterinnen und Arbeitern, ländlichen Gemeinschaften oder marginalisierten Gruppen ins Zentrum stellte. Diese Perspektive öffnete den Blick auf bislang verdrängte Erfahrungen, etwa auf das Leben unter dem Nationalsozialismus oder – in der Schweiz – auf das Schicksal der Verdingkinder, also der Betroffenen von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen.
In der Schweiz entstanden die ersten Erzählcafés Anfang der 2000er-Jahre, inspiriert vom Berliner Modell. Getragen wurden sie von Ursula Caduff und Lisbeth Herger, die das Konzept anpassten, um insbesondere älteren und zurückgezogenen Menschen den Zugang zu sozialem Austausch zu erleichtern. Im Unterschied zu den frühen deutschen Formaten, die eher als öffentliche Gesprächsrunden konzipiert waren, legten sie den Fokus auf die aktive Beteiligung aller Anwesenden. Ursula Caduff betonte, dass der Austausch von Lebenserfahrungen in moderierten Begegnungen dazu beitragen könne, Vorurteile abzubauen und politisch instrumentalisierte Bilder zu hinterfragen.
Die in Erzählcafés geteilten Geschichten blieben nicht immer im vertraulichen Rahmen: Viele fanden den Weg in Publikationen oder Ausstellungen und trugen so zur kollektiven Erinnerung eines Quartiers, einer Gemeinde oder einer Region bei. Andere wiederum wurden bewusst vertraulich belassen, um die Offenheit der Teilnehmenden zu schützen. Das gemeinsame Erzählen besitzt ein starkes soziales Integrationspotenzial: Es verbindet Menschen unterschiedlicher Herkunft und Lebenswelten. Seit ihren Anfängen stehen die Erzählcafés für eine demokratische und menschliche Kultur des Dialogs, die sowohl das soziale Miteinander als auch das psychische Wohlbefinden fördert – gerade in einer vielfältigen Gesellschaft.
*Dieser Text in eine Zusammenfassung des Artikels «Erzählcafés, Gesprächskreise – Die Anfänge» von Johanna Kohn, Gert Dressel und Jessica Schnelle im Buch «Erzählcafés. Einblicke in Praxis und Theorie» (S. 30-43), Beltz, 2022.