Unter der Leitung von Gert Dressel erarbeiten Autorinnen und Autoren aus dem deutschsprachigen Raum gemeinsam eine Publikation zum Thema «Das Erzählcafé auf dem Prüfstand. Erfahrungen und Gelingensbedingungen» (Arbeitstitel). Sie wird im 2021 erscheinen. Wir beantworten die wichtigsten Fragen.
Was wollen wir der Welt erzählen?
Seit den 1980er Jahren gibt es Erzählcafés, lebensgeschichtliche Gesprächskreise oder Biografiegruppen. In solchen Gruppen werden persönliche Erfahrungen und Geschichten von Menschen verschiedenen Alters und sozialer, kultureller und nationaler Herkunft ausgetauscht. Das besondere daran: Im moderierten Dialog wird nicht die «eine Wahrheit» gesucht. Vielmehr erhalten die verschiedenen Erfahrungen der Menschen ein Gehör.
Warum schreiben wir eine Publikation?
Jessica Schnelle, Gert Dressel und Johanna Kohn (v.l.n.r.), die die Publikation herausgeben werden, sprechen im Video über ihr partizipatives Publikationsprojekt und warum es wichtig ist, die Vielfalt der Erzählcafés sichtbar zu machen.
Wer schreibt an der Publikation mit?
Edith Auer, Wien
«Erzählen über das Eigene macht uns Menschen sichtbar, wir verbinden uns und erleben Verstehen. Beim Erzählen in Gruppen werden Fenster zu unterschiedlichsten Lebenssituationen aufgemacht, und diese Fenster gehen nicht nur für den Moment des Erzählens auf, sondern bleiben auch noch danach offen. Beim gemeinsamen Zurückschauen bekommen wir Bilder von fremden wie auch bekannten Lebenswelten, und so wird unser Mosaik der Erinnerungen immer bunter und reicher.»
Edith Auer, Wien
Rhea Braunwalder, St.Gallen
«Für mich ist der Austausch mit anderen ModeratorInnen über das 'was wir machen' wichtig, um meiner Tätigkeit als Moderatorin eine Richtung und einen Sinn zu geben. Um mich bewusst dieser Reflexion zu widmen, beteilige ich mich am Schreibprojekt.»
«Meine Motivation, in der Arbeitsgruppe Interkulturelle Erzählcafés mitzuwirken, ist es, herauszufinden, wie dies noch besser gelingen kann und was genau passiert, wenn Menschen aus verschiedenen Kulturen in einem Erzählcafé im Austausch sind.»
«Wir möchten zeigen, dass man mit der Verknüpfung verschiedener beruflicher Kompetenzen die Methode des Erzählcafés an ein jugendliches Publikum anpassen kann.»
Franco De Guglielmo und Daniela Hersch, Zentrum für Sozial-und Kulturanimation Prélaz-Valency
Gert Dressel, Wien
«Wenn Menschen einmal nicht diskutieren, sondern einander über sich erzählen und zuhören, passiert oft Erstaunliches: Kontakt, Verstehen, Vertrauen, Akzeptanz von Unterschiedlichkeit – zwischen Jung und Alt, zwischen Menschen aus nah und fern. Das passiert seit vielen Jahren in Erzählcafés oder Gesprächskreisen. Und das ist durchaus voraussetzungsvoll. Das alles gehört sichtbar gemacht und gewürdigt – gerade in Zeiten, in denen Populisten spalten. Auch deshalb finde ich dieses Projekt wichtig.»
Gert Dressel, Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen, Wien
Lisbeth Herger, Zürich
«Erzählen und Zuhören birgt die Möglichkeit, das Eigene mit Fremdem zu verbinden. Daraus wächst erzähltes Leben. Formt sich biografische Stärke. Zeigt sich kollektive Geschichte. Das Erzählcafé lässt Menschen aufeinander zugehen.»
Lisbeth Herger, Biografikerin, Autorin, Moderatorin von div. Erzählcafés, u.a. mit Betroffenen von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen, oder zur Historie eines Dorfes. Ist in der Schweiz als Freelancerin unterwegs.
Johanna Kohn, Basel/Olten
«Der eigenen Lebensgeschichte erzählend eine Gestalt zu geben und dabei von anderen Menschen gehört, erkannt und akzeptiert zu werden, ist eine heilsame und Identität stiftende Erfahrung. Sie fördert den gesellschaftlichen Zusammenschluss und das tiefere Verstehen unserer Lebensgeschichte als Teil der Zeitgeschichte. Dies durch sorgsame Moderation zu ermöglichen, ist ein Ziel von Erzählcafés. Es ist wichtig, die Gelingensbedingungen und Hindernisse dieser Methode zu erkennen. Dazu soll das Buch einen Beitrag leisten.»
Johanna Kohn, Fachhochschule Nordwestschweiz, Soziale Arbeit, Institut für Partizipation und Integration
Katharina Novy, Wien
«An Erzählcafés und anderen Formaten der Biografiearbeit begeistert mich, Begegnung zwischen Menschen zu ermöglichen und gleichzeitig den Blick für die Gesellschaft zu stärken. Empathie fördern, Gemeinsamkeiten wahrnehmen, uns selbst und andere als gesellschaftliche Akteur*innen erkennen – all das sind zentrale Zugangsweisen für politische Bildung in Zeiten vielfältiger Krisen. Mich reizt der Austausch und die gegenseitige Stärkung in solchen Bemühungen.»
«Ich fühle mich selbst immer wieder beschenkt durch besondere Momente im gemeinsamen Erzählen, in denen sich einzelne Erzähl- und Lebensfäden zu einem kleinen Muster verbinden und Menschen sich darin verbunden, geschätzt und gesehen bzw. gehört fühlen.»
Kerstin Rödiger, Schweiz, probiert vieles mit dem Format Erzählcafé im kirchlichen Kontext aus, sowohl mit Asylsuchenden, in der Spitalseelsorge, mit Freiwilligen und als städtisches Bildungsangebot.
Daniela Rothe, Essen
«Erzählen ermöglicht, über generationale, soziale und politische Differenzen hinweg in Kontakt zu treten. Räume für das Erzählen zu eröffnen und eine von wechselseitiger Anerkennung geprägte Erzählkultur zu pflegen ist deshalb nicht nur für diejenigen ein Gewinn, die daran teilnehmen, sondern für die Gesellschaft insgesamt. Erzählen lebt von Differenz und Vielfalt unterschiedlicher Erfahrungsperspektiven. Und es trägt dazu bei, immer wieder überraschende Gemeinsamkeiten zu entdecken. In der empirischen Erforschung und der professionellen Reflexion unterschiedlicher Erzählsituationen und -arrangements sehe ich ein Potenzial für die Weiterentwicklung lokaler Erzählkulturen, die soziale Verbindungen in einer offenen und pluralen Gesellschaft ermöglichen. Dazu will ich im Rahmen des Projekts beitragen.
Daniela Rothe, Fakultät für Bildungswissenschaften, Universität Duisburg Essen
Stefanie Schmid-Altringer, Bonn
«Erzählcafés haben ein enormes, noch nicht ausgeschöpftes Potential für unsere Gesundheit und Gesundheitsversorgung. Dieses möchte ich als Wissenschaftsjournalistin und Ärztin bekannt machen und weiterentwickeln. Erzählcafés zu 'Der Start ins Leben' sind als Live-Event digital vernetzt mit unserer Webseite und den sozialen Medien. Dadurch kann die private Erfahrung geschützt durch Anonymität politisch wirksam werden. Es sind deshalb keine klassischen Erzählcafés, sondern ein neues Erzählcafé-Format mit Ablegern für verschiedene Zielgruppen wie geflüchtete Frauen, Schulklassen, zur Schliessung von Geburtskliniken, für die Quartiersarbeit, etc.»
«In meinem Leben ist mir ein ganz besonderes Geschenk zuteil geworden: als mündlicher Geschichtsforscherin erzählten mir Menschen vertrauensvoll, ernsthaft, lustig aus ihren Erinnerungen; als Biographiearbeiterin in der Erwachsenenbildung nahmen/nehmen Menschen in Gruppen interessiert und engagiert die angebotenen Fragen und Methoden auf, um ihre Erinnerungslandschaft auf ungewohnten Wegen zu betreten; als Beraterin und psychologische Begleiterin von Geflüchteten eröffnet mir die bei alle dem ausgebildete biographische Sensibilität, facettenreich verständnisvoll mit den Menschen in Kontakt zu kommen.»
Annemarie Schweighofer-Brauer
Jessica Schnelle, Zürich
«Erzählcafés können einer “Kultur des Sendens” eine “Kultur des Zuhörens” entgegensetzen. In unserer diversen Gesellschaft bereitet das Erzählen und Zuhören den Boden dafür, gemeinsam die Zukunft zu gestalten. Mit dieser Publikation möchten wir Erzählcafés weiter auf die Agenda bringen.»
Jessica Schnelle, Projektleiterin Soziales, Direktion Kultur und Soziales, Migros-Genossenschafts-Bund
Claudia Sollberger, Solothurn
«Ich engagiere mich für diese Publikation, damit das Erzählcafé in all seiner Vielfalt und Qualität wahrgenommen wird. Insbesondere die Bedeutung einer mit Achtsamkeit und Sorgfalt durchgeführten Moderation als professionelle Methode in der Theorie und Praxis liegen mir am Herzen.»
Claudia Sollberger, Erzählcafé-Moderatorin
Wie läuft das Projekt ab?
Bis im April 2020 findet eine Verschriftlichung der Reflexionen und Analysen statt. An einem Workshop im Januar 2021 werden die Ergebnisse zusammengetragen und gesichtet. Das Ergebnis dieser Arbeit legt den Grundstein für die weitere zielgruppenspezifische Verarbeitung: vielleicht eine Publikation, ein Website-Beitrag oder Podcast? Für den Prozess der Erarbeitung ist uns wichtig, im ersten Schritt das Endprodukt noch offen zu lassen.
Für wen ist die Publikation?
Die Publikation soll Menschen, die Erzählcafés moderieren und organisieren, Unterstützung bieten. Die Ergebnisse werden im Jahr 2021 veröffentlicht.
Wer steht hinter dem Publikationsprojekt?
Das partizipativ und interdisziplinär angelegte Forschungs- und Publikationsprojekt ist eine Kooperation des Netzwerks Erzählcafé Schweiz (getragen vom Migros-Kulturprozent und dem Institut Integration und Partizipation an der Hochschule für Soziale Arbeit/FHNW) mit der Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen an der Universität Wien und dem Verein Sorgenetz (Wien).
Kontakt der Herausgebenden:
Gert Dressel, Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen an der Universität Wien sowie Verein Sorgenetz gert.dressel@univie.ac.at
Johanna Kohn, Fachhochschule Nordwestschweiz, Institut Integration und Partizipation johanna.kohn@fhnw.ch