10 Jahre Netzwerk Erzählcafé –
Rhea Braunwalder blickt zurück
Rhea Braunwalder war seit 2017 massgeblich am Aufbau des Netzwerks Erzählcafé beteiligt – zunächst als Projektleiterin und Moderatorin, anschliessend bis März 2025 als Co-Geschäftsführerin. Im Interview mit Vanda Mathis blickt sie auf ihre Erfahrungen in dieser Zeit zurück.
Wie bist du zum Netzwerk Erzählcafé gekommen? Was hat dich damals motiviert, Teil dieses Projekts des Migros Kulturprozents zu werden?
Nach meinem Studium in Ethnologie habe ich mich 2017 beim Migros-Kulturprozent initiativ beworben, weil mich ihre Projekte im Bereich Soziales dynamisch, farbig und lebendig erschienen. Da in meinem Lebenslauf das Stichwort «Erzählcafés» aufgeführt war, luden sie mich für ein Gespräch ein, und stellten mir das Pilotprojekt «Netzwerk Erzählcafé» vor, von dem ich davor nie gehört hatte. So begann ein lehrreiches Praktikum mit Schwerpunkt im Projekt Erzählcafé. Meine erste Aufgabe war es, den Leitfaden «Erzählcafés veranstalten» mitzuverfassen, welches wir übrigens jetzt noch in erneuerter Auflage verwenden. Als das Praktikum fertig war, entschied ich mich für ein Mandat für die weitere Mitarbeit im Projekt.
Wenn du auf die letzten Jahre zurückblickst – welche Meilensteine waren aus deiner Sicht besonders wichtig für das Netzwerk?
Ein wichtiger Meilenstein war 2019 das erste Treffen der Romandie in Lausanne. Damit gelang es uns, den Schritt zum nationalen Netzwerk zu machen. Das Tessin kam 2020 dazu. Ein weiterer Meilenstein war 2023 die Publikation des Buches «Erzählcafés: Einblicke in Praxis und Theorie» unter Herausgeberschaft von Gert Dressel, Johanna Kohn und Jessica Schnelle.
Gab es bestimmte Wendepunkte oder Phasen des Umbruchs oder Aufbruchs?
Aufbruchsstimmung vermittelte uns die erste Finanzierung durch Gesundheitsförderung Schweiz 2020. Eine wichtige Anerkennung war für mich auch, als das Format Erzählcafé 2022 auf die Orientierungsliste der Kantonalen Aktionsprogramme Alter (KAP) aufgenommen wurde.
Inwiefern hat sich das Verständnis von «Erzählcafé» über die Jahre verändert?
Vor allem auch über das Buchprojekt habe ich gemerkt, dass es Varianten in der Durchführung von Erzählcafés im DACH-Raum gibt. Ich würde sagen, die schweizerische Ausprägung mit einem moderierten Erzählteil, gefolgt von einem informellen Kaffeeteil, wie es von Johanna Kohn gelehrt wird, hat sich im Netzwerk gefestigt. In den 10 Jahren des Bestehens des Netzwerks ist es uns gelungen, das Format in bestimmten Kreisen bekannter zu machen, obwohl in anderen Bereichen das Format noch gänzlich unbekannt bleibt.
Gibt es ein oder zwei besonders eindrückliche Momente oder Begegnungen, die dir bis heute in Erinnerung geblieben sind?
Eindrücklich war für mich das 5. Werkstattgespräch 2019, das wir zum Thema «Erzählen-Zuhören-Resonanz erfahren» veranstalteten. Mit der Einladung des renommierten Soziologen Hartmut Rosa zog das Netzwerk Teilnehmende aus der Schweiz, Österreich und Deutschland an. Dies führte zu viel Anerkennung und natürlich einem grossen Motivationsschub für das Team.
Was ich in meiner ganzen Zeit beim Netzwerk sehr geschätzt habe, ist die Zusammenarbeit im Team. Alle stehen mit Herzblut hinter der Sache. Dieses Engagement meiner Kolleginnen und Kollegen war für mich immer spürbar.
Was hat dich im Laufe der Zeit am meisten berührt oder inspiriert?
Wenn ich die ersten Jahresrückblicke anschaue – 2018 umfasste er drei Seiten, 2024 bereits 15 – dann wird mir bewusst, wie sehr wir gewachsen sind und was wir alles erreicht haben!
Welche Rolle spielt das Erzählen für dich persönlich – hat sich deine Sicht darauf verändert?
Erzählcafés sind ein eher langsames Format, es geht um biografisches Erzählen und wertfreies Zuhören. Jedes Mal, wenn ich das erleben durfte, wurde mir das Lernpotential bewusst: Man kann aus den Erfahrungen anderer viel für das eigene Leben mitnehmen. Die persönlichen Geschichten machen auch Konstanten deutlich, man erkennt sich in eigenen Erzählungen plötzlich wieder und sie legen viele individuelle Ressourcen offen. Diese Ressourcenorientierung ist für mich ein zentrales Merkmal von Erzählcafés: Wie hat jemand eine Situation bewältigt, wie erzählt sie davon?
Welche Herausforderungen sind dir in den Jahren begegnet – sei es im Netzwerk, in der Organisation oder bei einzelnen Erzählcafés?
Nicht ganz einfach ist die Frage, wie man die Bekanntheit des Formats Erzählcafé fördern kann. Wie und wo findet man Teilnehmende? Wie bringe ich Personen dazu, es einfach einmal auszuprobieren? Denn nur so lässt sich wirklich erleben, welches Potential das Format hat. Herausfordernd ist sicher auch der Übergang von einer vollständigen Finanzierung durch den Migros Kulturprozent zu einer eigenständigen finanziellen Basis. Dieser Prozess ist noch am Laufen.
Gab es auch Momente des Zweifelns oder Fragens – und was hat dich dann motiviert weiterzumachen?
Zweifel kommen schon auf, wenn jemand ein Erzählcafé organisiert – und es kommt niemand. Aber die vielen positiven Rückmeldungen, die es von gelungenen Erzählcafés gibt, motivieren uns weiterzumachen. Für mich persönlich blieb es spannend, weil ich immer wieder neue Dinge gefunden habe, die ich anders oder besser machen konnte.
Welche Wirkung hat das Projekt deiner Meinung nach auf die Teilnehmenden, aber auch auf die Gesellschaft?
Menschen haben ein Mitteilungsbedürfnis, und manche haben leider nicht wirklich gute Zuhörende im Umfeld. Das Erzählcafé gibt Teilnehmenden das Gefühl, gehört zu werden. Und die Teilnehmenden können viel voneinander für das eigene Leben lernen. Ich sehe Erzählcafés als eines von verschiedenen Formaten, die den Dialog und Austausch in einer Gesellschaft fördern können.
Was hat sich durch das Netzwerk in deinem beruflichen oder privaten Umfeld verändert?
Persönlich habe ich viel gelernt. Vor allem das nationale, dreisprachige Umfeld, die Weiterbildungen zur Erzählcafé und Art of Hosting Moderatorin und der Austausch mit verschiedenen Projekten des Migros-Kulturprozents haben meine berufliche Weiterentwicklung Richtung Soziales, Gesundheitsförderung und Freiwilligenarbeit stark geprägt.
Was wünschst du dir für die Zukunft des Netzwerks?
Mit der Vereinsgründung 2022 war es zuerst wichtig, neue, zielführende Strukturen zu bilden. Die bestehen inzwischen und funktionieren gut. Für mich stellt sich nun die Frage nach der Rolle der Vereinsmitglieder: Sollen alle Aktivitäten von der Geschäftsstelle ausgehen oder wollen wir die Ressourcen unserer Mitglieder besser nutzen im Sinne von peer-to-peer, zum Beispiel für den Austausch von Erfahrungen, der Organisation von Veranstaltungen? Können wir von ihnen freiwilliges Engagement erwarten?
Gibt es etwas, das du anders machen würdest – mit dem Wissen von heute?
Mit dem Wissen von heute würden wir wohl nichts anders machen – aber schneller entscheiden. Manchmal hat es lange gebraucht, bis wir wussten, wie wir vorgehen wollten.
Gibt es etwas, das du dem Netzwerk oder den Menschen, die heute dazukommen, mitgeben möchtest?
Ich wünsche allen ein herzliches Willkommen und dass sie mit Erzählcafés Spass haben und vom Wissen im Netzwerk profitieren können. Es ist sehr lehrreich, wenn man sich gegenseitig in Erzählcafés besucht und danach gemeinsam reflektieren kann. Und auch, dass der internationale Austausch mit unseren Partnern in Deutschland und Österreich, der seit Beginn besteht, weitergeführt wird.