Über ein Erzählcafé lässt sich zweifellos sagen, dass es intensiv, bewegend, berührend, heiter, fröhlich oder ernst war. Aber darf man auch urteilen, dass es erfolgreich oder – im Gegenteil – nicht erfolgreich war? Von einem Misserfolg zu sprechen, würde das nicht bedeuten, die Qualität der ausgetauschten Erzählungen in Frage zu stellen? Ein persönlicher Erfahrungsbericht.

 

Text: Anne-Marie Nicole, Koordinatorin Suisse romande

Anfang Dezember 2021 hat das Musée Ariana in Genf das partizipative und Wochenende «L’art pour tous, tous pour l’art» organisiert. Es stand ganz im Zeichen der Inklusion und der Vielfalt der Teilnehmenden. Das angebotene Kulturprogramm sollte die Pluralität der Sichtweisen fördern. In diesem Rahmen wurden zwei Erzählcafés angeboten. Bereits in der Vergangenheit fanden auf Initiative der Kulturvermittlerin Sabine Erzählcafés im Museum statt. Das Musée Ariana hat dem Publikum die Museumsräume und einen Rahmen für Gespräche zur Verfügung gestellt.

«Es stellte sich plötzlich Enttäuschung ein»

Dieses Mal ging es am Erzählcafé ums Thema «Plaisirs et déplaisirs». Es bot den Teilnehmenden die Möglichkeit, von kleinen Freuden zu erzählen, die für sie das Leben ausmachen und die sie wie Prousts Madeleine in die Gerüche und Gefühle ihrer Kindheit zurückversetzen. Und da dieses Wochenende dazu gedacht war, die Wahrnehmungsfähigkeiten zu trainieren, sollte das Thema auch dazu einladen, von sensorischen Erinnerungen und Erfahrungen zu erzählen: sinnliche Genüsse und Verdrüsse, Mögen und Nichtmögen, gute und schlechte Gerüche, Sehsinn und Hörsinn, die Freude bereiten können, manchen Menschen aber verwehrt sind.

Nach dem ersten Erzählcafé am Samstag, an dem etwa ein Dutzend Personen mit und ohne Beeinträchtigung teilgenommen hatten, stellte sich bei uns Moderatorinnen und Vermittlerinnen Enttäuschung ein. Wir hatten das Gefühl, dass die Veranstaltung etwas zusammenhanglos und bruchstückhaft war. Wir hatten noch die vorherigen, reichen und bewegenden Erzählcafés in Erinnerung, an denen die einzelnen Geschichten ganz natürlich ineinander übergingen und von den Teilnehmenden aufgegriffen wurden. In diesem Fall jedoch waren wir enttäuscht, und dies trotz einiger reicher Geschichten und der Übersetzung in Gebärdensprache. Was hat da nicht richtig funktioniert?

Was lief schief?

Wir haben dann zusammen versucht, die Ursachen zu identifizieren. Schnell waren wir uns einig, dass diese einerseits bei den externen Bedingungen und andererseits bei der Vorbereitung des Erzählcafés zu suchen sind. Hier die Erkenntnisse:

  • Das Umfeld. Bei der Organisation des Erzählcafés mussten wir die COVID-19-Schutzmassnahmen berücksichtigen. Aus diesem Grund wurde der grosse Raum gut gelüftet, weswegen es allerdings relativ kühl war und die Teilnehmenden ihre Mäntel nicht auszogen. Die Stühle wurden kreisförmig mit grossem Abstand angeordnet, wodurch sich keine vertraute, gemütliche Atmosphäre einstellen konnte. Durch das Tragen der Maske war es teilweise schwierig, die Erzählungen zu verstehen. Das Zuhören und die Aufmerksamkeit wurden durch Geräusche anderer Aktivitäten im Museum gestört, ebenso wie durch das Kommen und Gehen im Raum selbst; denn manche Personen kamen zu spät und wussten deshalb nicht über den Ablauf und die Verhaltensregeln eines Erzählcafés Bescheid. Aufgrund der Schutzmassnahmen mussten wir zudem auf den informellen «Café»-Teil verzichten, der jedoch für das Knüpfen von Beziehungen wichtig ist.
  • Die Vorbereitung. Nachdem ich darüber nachgedacht habe, muss ich gestehen, dass ich den Kontext, in dem die beiden Erzählcafés stattfanden, aus den Augen verloren habe. Anstatt den Fokus auf die sensorischen Erfahrungen zu legen, die die Teilnehmenden während des Tages im Museum gemacht hatten, und sie mit vergangenen Erinnerungen und Ereignissen in Verbindung zu bringen, habe ich das Thema «Plaisirs et déplaisirs» zu breit behandelt. Dies erklärt gewiss den mitunter zusammenhanglosen Ablauf und zweifellos auch den Frust mancher Personen darüber, dass sie ihre Entdeckungen und Eindrücke vom Tag selbst nicht teilen konnten.
  • Die Gruppe. Die Zielgruppe war sehr breit: Personen mit körperlicher oder psychischer Beeinträchtigung, ihre Angehörigen und Begleitpersonen. Rückblickend denke ich, dass ich bzw. wir stärker an der integrativen Dimension des Erzählcafés hätten arbeiten sollen, zum Beispiel durch das Einbeziehen einer Person mit Beeinträchtigung bei der Moderation des Erzählcafés.

Aus Fehlern gelernt

Für das zweite Erzählcafé haben wir Anpassungen – hauptsächlich logistischer Art – vorgenommen. So haben wir zum Beispiel die Tür zum Raum geschlossen, sobald wir begonnen haben. Später haben wir auch über die Vorbereitung des Themas und den Umgang mit der Vielfalt der Teilnehmenden nachgedacht. Die Moderatorinnen und Vermittlerinnen hatten sich bereits im Vorfeld ausgetauscht und sich Gedanken gemacht.

Diese Erfahrung hat mich gelehrt, dass jedes Erzählcafé einzigartig ist, seinen eigenen Rhythmus, seine eigene Dynamik und seine eigene Atmosphäre hat. Mir wurde klar, dass es nicht nur wichtig ist, einen gemütlichen, geselligen und sicheren Ort zu wählen, sondern auch, dass eine gute Vorbereitung essenziell ist: Man sollte sich die Zeit nehmen, über das gewählte Thema nachzudenken, zunächst in Bezug auf sich selbst, aber auch in Bezug auf das erwartete Publikum. So kommt das Gespräch besser in Gang und fliesst wie von alleine.

 

Zum erfolgreichen Erzählcafé

Erzählungen können nicht beurteilt oder bewertet werden. Sie sind weder gut noch schlecht, weder richtig noch falsch. Sie sind ganz einfach Erzählungen. Die Ursachen für ein «misslungenes» Erzählcafé liegen meist bei der Vorbereitung, der Vorkenntnis, dem Empfang der Teilnehmenden oder dem Umfeld. Der praktische Leitfaden des Netzwerks Erzählcafé unterstützt Moderator*innen und Veranstalter*innen bei der Vorbereitung und Durchführung von Erzählcafés.

Immer wieder erreichen uns Feedbacks der Teilnehmenden. Wir haben uns umgehört und Stimmen gesammelt. Haben Sie am Erzählcafé eine spannende Erfahrung gemacht? Schreiben Sie uns!

«Ich kann mich erinnern, dass ich beim Erzählcafé dabei war. Ich fand es schön. Du hockst dort, eine halbe Stunde, eine Stunde, und hast teil am Leben von Menschen, die du nicht kennst. Du erfährst ein Bruchstück ihres Lebens, ihrer Geschichte. Du hörst zu, erzählst von dir, und das gefallt mir! Ein unbekümmerter, freier Austausch. Nur so lernt man Leute kennen, wenn man miteinander redet. Und so sieht man sie auch von einer anderen Perspektive. Darum finde ich das Erzählcafé eine coole Sache!»

Alessandro Capasso, Primarschullehrer aus Berg SG, nahm im Solihaus an einem Erzählcafé zum Thema Abschied teil.

Die 20-jährige Aline war zum ersten Mal an einem Erzählcafé. Sie spricht über die Verbundenheit mit zuvor fremden Menschen, der Offenheit gegenüber Neuem und dem Generationen übergreifenden Dialog.

 

Wie hast du das Erzählcafé erlebt?

Aline: Ich war extrem positiv überrascht, dass alle am Tisch so aus sich herauskamen. Es war für mich auch sehr schön, mal in Kontakt mit verschiedenen Altersgruppen gleichzeitig zu kommen und deren Sicht auf ein doch eher banales Thema wie «Sonntagsausflüge mit Freunden» zu bekommen.

Mit welchem Gefühl bist du nach Hause gegangen?

Ich hatte am Schluss das Gefühl, ich sei seit einer Woche jeden Tag in diesem Kaffee mit diesen Personen gewesen – als ob ich alle schon ewig kenne. Ich ging mit einem sehr positiven und glücklichen Gefühl nach Hause.

Wie würdest du das Erzählcafé einer Freundin oder einem Freund schmackhaft machen?

Ich würde ihnen erzählen, dass es ein besonderes Erlebnis ist. Vielleicht etwas speziell zu Beginn, weil man niemanden kennt. Doch anschliessend, wenn sich alle öffnen, ist es wunderbar! Ich denke, man muss es einfach einmal erlebt haben. Es kommt natürlich darauf an, wie offen man gegenüber neuen Situationen und Menschen ist.

Zur Person

Aline studiert Betriebswirtschaftslehre mit einem Zusatzstudium in Wirtschaftspädagogik. Sie arbeitet neben dem Studium bei einem Stellenvermittlungsbüro und gibt im Unisport an der Universität St.Gallen HSG Sportstunden. Die 20-Jährige wohnt in St.Gallen und Luzern.

Ayub ist im Iran geboren und aufgewachsen. Er nimmt regelmässig an Erzählcafés im Solihaus teil (Foto: Anna-Tina Eberhard).

Ayub ist 27 Jahre alt. Der junge Plattenleger ist im Iran aufgewachsen und wohnt seit drei Jahren in der Schweiz. Im Interview sagt er, was ihn am Erzählcafé fasziniert.

 

Ayub, wie kamst du aufs Erzählcafé?

Ayub: Ich fahre oft nach St.Gallen, um mich mit anderen Menschen im Solihaus auszutauschen. Dort habe ich auch das Erzählcafé kennengelernt.

Wie hast du das Format erlebt?

Mir gefällt es sehr gut, denn ich treffe jedes Mal neue Leute. Diese stammen aus verschiedenen Ländern und haben spannende Geschichten aus ihrer Vergangenheit zu erzählen. Ausserdem kann ich dabei meine Deutschkenntnisse verbessern.

Was gefällt dir besonders gut?

Dass die Leute am Erzählcafé mich immer zum Lachen bringen. Die Geschichten, die wir uns erzählen, sind meistens sehr lustig. Mit anderen Menschen zu lachen ist etwas sehr Wertvolles im Alltag.

Haben Sie eine spannende Geschichte, die Sie anderen erzählen möchten? Schreiben Sie uns.

Am Rande des 5. Werkstattgesprächs hat Rhea Braunwalder mit Teilnehmerinnen und Teilnehmern gesprochen. Die junggebliebene Pensionierte Sina Florin hat sich zum Ziel gesetzt, Erzählcafés auf Italienisch anzubieten.

 

Rhea Braunwalder: Frau Florin, welche Ziele haben Sie sich nach dem Werkstattgespräch gesteckt? 

Sina Florin: Ich möchte mit den Italienerinnen und Italienern, die ich früher bei der Pro Senectute beraten habe, Erzählcafés auf Italienisch organisieren. Viele Menschen, die in die Schweiz eingewandert sind, fühlen sich einsam. Ich möchte sie aus der Stube locken (lacht). Mein fernes Ziel wäre, dass sie sich sogar untereinander kontaktieren und das Erzählcafé zu einem Treffpunkt wird.

Was gefällt Ihnen am Format «Erzählcafé»?

Es ist eine super Sache, denn man kann seinen Emotionen aus dem Innersten hervorholen und sie in einem geschützten Rahmen erzählen. Ich finde es auch gut, dass ein Erzählcafé nicht einen «therapeutischen» Stil verfolgt, sondern man sich einfach mit unterschiedlichen Menschen austauscht.

Wie haben Sie die Moderation erlebt?

Ich habe noch wenig Erfahrung mit Erzählcafés gesammelt, möchte mich nun aber als Moderatorin engagieren. Zuerst habe ich eine Moderatorin kontaktiert, die in Bern Erzählcafés anbietet. Sie hat mich gleich eingeladen, bei ihr vorbeizukommen. Auch auf der Webseite des Netzwerks Erzählcafé fand ich viele Informationen. Schliesslich besuchte ich einen Informationsanlass bei der Pro Senectute. Nun fühle ich mich fit, meine eigenen Erzählcafés zu organisieren!

Zur Person

Sina Florin ist seit Kurzem pensioniert. Früher arbeitete sie bei Pro Senectute und bot Beratungen für Italienerinnen und Italiener an, die kein Deutsch konnten. Sie hat diese Arbeit sehr genossen und dachte sich nach der Pensionierung, dass sie gerne weiterhin etwas mit diesen Menschen unternehmen möchte.

Rita Garstenauer ist aus Österreich angereist und verfolgt die Entwicklung des Netzwerks Erzählcafé in der Schweiz intensiv. Sie hat sich mit Rhea Braunwalder am Rande des 5. Werkstattgesprächs über die Organisation von Erzählcafés ausgetauscht.

 

Rhea Braunwalder: Frau Gerstenauer, ist das Format «Erzählcafé» in Österreich auch populär?

Ja, auch in Österreich werden Erzählcafés gut angenommen. Allerdings gibt es in der gesellschaftlichen Realität wenige Gelegenheiten, wo Erzählcafés stattfinden können. Aus dem Werkstattgespräch nehme ich sehr viele Anregungen und Kontakte mit, damit ich weiterhin Gelegenheiten für diese Art des Austausches schaffen kann.

Welche Erfahrungen haben Sie mit Erzählcafés gemacht?

In erster Linie organisiere ich Erzählcafés. In geringem Mass mach ich auch selber als Teilnehmerin mit.

Was gefällt Ihnen am Format?

Das Format Erzählcafé kommt mir wie eine sehr mächtige Methode vor. Sie stiftet Kommunikation, zeigt den Menschen Respekt, und ganz wichtig: Sie hilft dabei, Denkprozesse in Gang zu setzen.

Zur Person

Rita Garstenauer wohnt in St. Pölten, Österreich. Sie ist Historikerin und arbeitet am Zentrum für Migrationsforschung.

Am Rande des 5. Werkstattgesprächs hat Rhea Braunwalder einige der Teilnehmenden befragt. Karl Weingart fühlte sich inspiriert, das Gelernte in seine Arbeit bei der Gemeinde und seinen Alltag einzubringen.

 

Rhea Braunwalder: Herr Weingart, was sind Ihre Erfahrungen mit Erzählcafés?

Ich habe noch keine Erfahrungen mit Erzählcafés gesammelt und bin zum ersten Mal hier. Ich bin aber sehr inspiriert und finde das Format spannend. In Hochdorf planen wir ein Projekt mit dem Namen «Das rote Sofa». Dort wollen wir im öffentlichen Raum ein Sofa hinstellen und Menschen einladen, Geschichten zu erzählen. Wir möchten auch Jugendliche ansprechen und fragen: «Was bräuchte es, damit sich junge Menschen wohlfühlen und sich gerne dort aufhalten?»

Was gefällt Ihnen am Erzählcafé-Format?

Mir gefällt, dass der Fokus wirklich auf biografischen Themen liegt. Und, dass man von sich aus etwas erzählt, das man erlebt hat. Das habe ich so noch nie erfahren. Während des Erzählens sind sehr schöne und berührende Geschichten entstanden, die in mir Bilder ausgelöst haben. Und wenn das passiert, bin ich inspiriert.

Wie werden Sie diese Inspiration nutzen?

Sicher für unser Projekt in der Gemeinde, aber auch, um mein eigenes Zuhören und das empathische Heraushören zu schulen. Kommunikation finde ich immer wichtig, sei es in der Paarbeziehung, im Alltag mit Freunden oder im Sport.

Zur Person

Karl Weingart lebt in Hochdorf. Er arbeitet als Kinder- und Jugendbeauftragter bei der Gemeinde und engagiert sich für Projekte wie «Das rote Sofa», um die Bevölkerung näher zusammenrücken zu lassen.

Eveline ist eine weltgewandte Frau: Als ehemalige Flugbegleiterin und Reisespezialistin hat sie die Welt entdeckt. Im Interview erzählt sie, wie das Erzählcafé sie inspiriert hat.

 

Was hat dich ans Erzählcafé geführt?

Eveline: Meine Freundin Ursula hat mich gefragt, ob ich auch mitmache. Ich kannte die Idee des Erzählcafés von einer Bekannten, die solche Veranstaltungen in Altersheimen durchführt. Ich dachte, das sei etwas für ältere Leute und habe mich zu jung gefühlt. Dann habe ich mir aber gesagt, dass man sich im Leben öfter mal auf ein Experiment einlassen sollte, um neue Leute und Ansichten kennenzulernen.

Und wie war dieses Experiment?

Ich fühlte mich vom ersten Moment an wohl. Die Leute kamen aus verschiedenen Ländern und ich traf von der Studentin aus St.Gallen über die Tänzerin aus Brasilien bis zum Plattenleger aus dem Iran interessante Persönlichkeiten. Es war erstaunlich, wie schnell sich eine Vertrautheit entwickelte.

Was habt ihr euch erzählt?

Am Anfang dachte ich, ich habe doch gar nichts zu Erzählen. Einer der Teilnehmenden hat dann aber eine lustige Anekdote erzählt. Da kamen mir plötzlich ganz viele Erlebnisse in den Sinn und ich habe mich an Dinge erinnert, die ich glaubte vergessen zu haben.

Wie wichtig ist die Moderation bei einem Erzählcafé?

Die Moderation ist absolut nötig und sehr wertvoll. Als es still wurde, gab die Moderatorin einen Impuls und lenkte das Gespräch in eine neue Richtung.

Was nimmt du persönlich mit nach Hause?

Ich fand es interessant, den Horizont zu erweitern und das Verständnis für andere Menschen und Länder zu vertiefen. Ich behalte das Erzählcafé in sehr guter Erinnerung.

Zur Person

Eveline arbeitet als Leiterin Administration Reiseorganisation und Kundenservice bei Pacific Society in Appenzell. Mit ihrem Mann hat sie das Familienunternehmen aufgebaut. Bei ihren Reisen in die entlegensten Ecken der Erde erfährt und erlebt das Paar Geschichten von Menschen aus unterschiedlichen Lebenswelten.

Tobias ist von Beruf Improvisationstrainer und Geschichtenforscher. Der ehemalige Reiseberater und Personalleiter hat seine Leidenschaft fürs Improvisieren schon vor vielen Jahren entdeckt und gründete vor zehn Jahren das Playback-Theater St.Gallen. Er steht häufig auf der Bühne, unterrichtet an Fachhochschulen und übt die Kunst der Improvisation mit Unternehmen.

 

Tobias, was hat dich ans Erzählcafé geführt?

Tobias: Ich wurde von einer Bekannten eingeladen und war neugierig auf das Format. Ich übe mich seit vielen Jahren darin, eine Verbindung zwischen der Bühne und dem Menschen zu schaffen. Das Erzählcafé erschien mir wie eine Bühne, auf der Menschen sich kleine und grosse Abenteuer aus ihrem Leben erzählen.

Haben sich deine Erwartungen erfüllt?

Es war ein schöner Anlass an diesem Sonntagmorgen. Ich kannte niemanden. Doch sehr rasch entstand eine Verbindung über die persönlichen Erlebnisse, die wir uns erzählt haben. Was mich fasziniert hat, ist, dass es nicht wie an einem Stammtisch zu und her ging, wo alle sich ins Wort fallen. Wer etwas erzählt, bekommt die volle Aufmerksamkeit der anderen. Das macht einfach etwas mit mir als Erzähler. Ich bekomme Wertschätzung und gehe viel vorsichtiger mit meinen Worten um.

Gibt es Parallelen zur Erzählform des Playback-Theaters, das du praktizierst?

Ganz klar. Bei beiden Formen geht es darum, einander aufmerksam zuzuhören und non-verbale Signale des Gegenübers wahrzunehmen. Wenn jemand seine Geschichte beendet, nimmt der nächste den roten Faden auf und spinnt die Erzählung weiter. Über die Geschichte rückt der Mensch in den Vordergrund und es entsteht eine Verbindung, ein gemeinsames Erlebnis.

Welchen Stellenwert hat die Improvisation in unserer Gesellschaft?

Wir leben in einer eng vernetzten Welt mit einer hohen Informationsdichte. Was heute gilt, kann morgen schon wieder überholt sein. Das stellt viele Menschen vor eine schwierige Situation, denn sie müssen improvisieren. Wer lernt, wieder mehr auf seine Intuition zu hören und einfach mal auszuprobieren, ist automatisch agiler. Die Improvisation ist die Mutter der Kreativität. In der Kunst ist sie akzeptiert, im Geschäftsleben hat sie leider einen schlechten Ruf. Ich bin aber überzeugt, dass wir dem Konzept der Improvisation auch im Arbeitsalltag mehr Raum geben müssen.

Was würdest du einem Manager raten?

Ich würde der Person raten, die Ressourcen zu nutzen, die man in sich drin hat. Wer lernt, in einem offenen Raum der eigenen Intuition und Kreativität zu vertrauen, wird ganz viel über sich selbst lernen. Das heisst natürlich auch, dass man über seine Komfortgrenze hinausgeht. Da wird es herausfordernd, aber da macht es auch Spass.

Zur Person

Tobias ist Leiter des Playback-Theaters St.Gallen. Er hat seine Ausbildung am Centre for Playback Theatre
in New York absolviert. Der ehemalige Reiseberater und Personalleiter unterrichtet an Fachhochschulen, trainiert die Improvisation mit Unternehmen und spielt selber leidenschaftlich gerne auf der Bühne. Beim Playback-Theater treffen sich Menschen zur Interaktion ohne Skript und Vorlage. Gemeinsam gestalten sie, auf der Basis ihrer eigenen Abenteuergeschichten und Erlebnisse, einen Theaterabend.

www.ent-rollen.ch

 

Ursula ist eine frisch gebackene Pensionärin aus Appenzell. Sie sitzt am Tisch am Erzählcafé, im Hintergrund ist die Gruppe in ein Gespräch vertieft.
Ursula (65) wohnt in Appenzell. Sie war zum ersten Mal an einem Erzählcafé (Foto: Anna-Tina Eberhard).

Ursula ist eine junggebliebene Pensionärin aus Appenzell. Mit ihrem blonden Pagenkopf und dem ansteckenden Lachen integriert sie sich sofort in die Gruppe, die sich an einem Sonntagmorgen im St.Galler Kaffeehaus trifft. Im Interview spricht sie über ihre erste Erfahrung an einem Erzählcafé.

 

Was hat dich ans Erzählcafé geführt?

Ursula: Meine Tochter hat die neue Webseite für das Netzwerk Erzählcafé konzipiert. Als sie für das Fotoshooting Modelle suchte, hat sie mich gefragt. Ihre Idee war, dass ich mit meiner Freundin Eveline teilnehme und die «etwas reifere Generation» vertrete.

Wie war eure Erfahrung? 

Wir sind an diesem Februarmorgen ein bisschen nervös nach St.Gallen gefahren. Einerseits waren wir gespannt, was uns erwartet, andererseits habe ich insgeheim gehofft, dass ich nichts sagen muss.

Und hast du dann doch etwas erzählt?

Ich habe zugehört, was die anderen zum «Thema Sonntagsausflug mit Freunden» erzählt haben. Als schliesslich alle mich anschauten, sagte ich: «Also, ich bin jetzt frisch pensioniert. Am Sonntag bleiben mein Mann und ich eigentlich immer zu Hause und kochen für unsere Kinder. Aber an allen anderen Tagen der Woche zieht es uns nach draussen.» Alle haben gelacht!

Würdest du wieder an ein Erzählcafé gehen?

Ja, das Erzählcafé hat einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen. Es waren wirklich tolle Leute dabei und mir ist das Gespräch beim Einschlafen nochmals durch den Kopf gegangen. Es war ein ungewöhnlicher Tag, nämlich ein Sonntagsausflug mit meiner Freundin Eveline in die Stadt (lacht)!

Haben Sie eine spannende Geschichte, die Sie anderen erzählen möchten? Schreiben Sie uns.