Ich erzähle und teile meine Geschichte mit anderen – aber was ist mit der Privatsphäre?

Am 17. Oktober 2023 fand an der Eidgenössischen Hochschule für Berufsbildung (EHB) in Lugano das Thementreffen des Netzwerks Erzählcafé für die italienische Schweiz statt. Für diese Veranstaltung haben wir ein ebenso wichtiges wie komplexes Thema gewählt: den Umgang mit der Privatsphäre, wenn autobiografische Geschichten miteinander geteilt werden. An der Veranstaltung nahmen Marilù Zanella (Auto aiuto Ticino), Noè Albergati (EHB), Ludmila Crippa (Moderatorin des Netzwerks Erzählcafé) und Michelle Colombo (Verfasserin einer Diplomarbeit über formelle und informelle Hilfe) teil.

Von Valentina Pallucca Forte

Das gewählte Thema ermöglichte es uns, verschiedene Methoden des Austauschs zu vergleichen, die manchmal verwechselt werden. Wir befassten uns insbesondere mit Selbsthilfegruppen und der Human Library. Zwar kann man davon ausgehen, dass die an Erzählcafés teilnehmenden Personen einen kleinen (oder grossen) Teil ihrer Erfahrungen preisgeben möchten, es kann aber passieren, dass sie zu viel von sich erzählen. Manchmal kommt es vor, dass man sich in dieser ungezwungenen und freundlichen Atmosphäre gehen lässt und den anderen mehr offenbart, als man eigentlich möchte oder geplant hatte.

In Selbsthilfegruppen ist die Situation möglicherweise noch heikler, da oft sensible Themen behandelt werden. Wenn ich zum Beispiel an einer Selbsthilfegruppe zum Thema Magersucht teilnehme, weil meine Tochter an einer Essstörung leidet, wissen dann die anderen Teilnehmenden, dass es dieses Problem in meiner Familie gibt. Wer schützt die Privatsphäre meiner Tochter? Wie viel kann ich über sie in der Gruppe erzählen? Wo ist in diesen Fällen die Grenze zu ziehen? Am Treffen stellte sich heraus, dass dies in kleinen Städten wie Lugano noch problematischer ist, da es sein kann, dass man jemanden aus der Gruppe kennt.

Die Human Library

Interessant war auch, was eine Teilnehmerin erzählte, die eine andere Methode des Austausches ausprobieren wollte: die Human Library. Bei der Human Library werden Menschen zu Büchern, die man durchblättern kann. Sie stellen sich für eine bestimmte Zeit anderen Menschen zur Verfügung, um gelesen zu werden, sprich um Fragen zu ihrer persönlichen Geschichte zu beantworten. Das hat sie erzählt:

«Ich war sofort Feuer und Flamme, als mir vorgeschlagen wurde, mich als menschliches Buch für die Human Library zur Verfügung zu stellen. Als ich aber meiner Familie davon erzählte, stiess ich auf grossen Widerstand. Meine Lebensgeschichte ist mit der meiner Familienangehörigen verflochten, und sie waren nicht so begeistert wie ich von der Vorstellung, sie öffentlich zu erzählen. Letztendlich habe ich einen Rückzieher gemacht, um ihre Privatsphäre zu schützen.»

Diese Erzählung zeigt uns, wie unsere Lebensgeschichten unweigerlich mit den Lebensgeschichten unserer Familienangehörigen, Freunde und Vertrauten verbunden sind. Zwar können wir unsere Privatsphäre oder die Privatsphäre der uns nahestehenden Personen mit einigen kleineren Strategien schützen, eine Grenze festlegen, über die wir nicht hinausgehen wollen. Es lohnt sich jedoch immer, die Teilnehmenden dazu aufzufordern, respektvoll mit den persönlichen Erzählungen umzugehen und sie vertraulich zu behandeln.

Den Moderierenden kommt beim Schutz der Privatsphäre der erzählenden Personen eine entscheidende Rolle zu. Sie müssen Situationen, die die Privatsphäre der erzählenden Personen gefährden könnten, erkennen und mit Feingefühl damit umgehen. Das Moderieren von Erzählcafés ist eine Kunst, die man mit der Zeit erlernt. In diesem Zusammenhang möchten wir daran erinnern, dass das Netzwerk Erzählcafé regelmässig Einführungskurse für angehende Moderatorinnen und Moderatoren sowie Möglichkeiten zum Austausch und Vertiefen bestimmter Themen anbietet.

In unserer Agenda finden Sie alle kommenden Veranstaltungen.

In diesem Video erfahren Sie mehr über die Human Library: