Was passiert, wenn Menschen aus unterschiedlichen Lebenswelten bei Kaffee und Kuchen ins Gespräch kommen? Es entstehen Nähe, Verständnis – und neue Perspektiven. Genau das ist das Ziel unserer Beteiligung an der #vielfaltsinitiative des Migros-Kulturprozents.

Die Schweiz ist bunt. Das Land vereinigt unterschiedliche Sprachen, Kulturen, Generationen und Lebensentwürfe – und doch leben viele Menschen eher nebeneinander als miteinander. Das will die #vielfaltsinitiative ändern.

Erzählcafés schaffen Raum für echte Begegnung. Im Zentrum stehen persönliche Erlebsnisse, zum Beispiel zum Thema Vielfalt: Wie sieht diese im Alltag aus? Wie erleben wir Unterschiedlichkeit? Was verbindet uns trotz aller Unterschiede? Welche Herausforderungen und Chancen bringen sie mit sich? Und was können wir voneinander lernen? Jede:r erzählt von den eigenen Erfahrungen, alle hören zu, ohne Vorurteile. Genau das macht das Erzählcafé so wertvoll.

Miteinander reden statt nebeneinander leben

Um das «Miteinander statt nebeneinander» zu fördern, lanciert der Migros Kulturprozent im Juni einen Wettbewerb, bei dem es 1’000 Gutscheine à 250 Franken zu gewinnen gibt. Samentüten mit QR-Code zum Wettbewerb liegen vom 9.-29. Juni in den Migros-Filialen auf.

Als eine der möglichen Aktivitäten organisieren die Gewinner:innen einen Austausch zum Thema Vielfalt im Alltag. Ob im Wohnzimmer mit Freund:innen, beim Apéro mit Nachbar:innen oder im öffentlichen Raum – jede Erzählcafé-Runde ist einzigartig. Das Besondere: Es braucht keine grosse Bühne, sondern nur Offenheit, Neugier – und vielleicht ein Stück Kuchen.

Mit Unterstützung zum eigenen Erzählcafé

Dank des Migros-Gutscheins können die Gastgeber:innen für das leibliche Wohl sorgen: Kaffee, Apéro oder Blumen auf dem Tisch – alles, was eine gute Atmosphäre schafft.

Neben dem Gutschein gibt es auch konkrete Hilfe bei der Durchführung: In Zusammenarbeit mit dem Netzwerk Erzählcafé wurde ein praktischer Leitfaden mit passenden Gesprächsfragen erarbeitet. Zudem können die Gewinner:innen an einer kostenlosen Online-Einführung teilnehmen, um Sicherheit im Ablauf und Inspiration für die Gesprächsgestaltung zu gewinnen.

Vielfalt beginnt im Gespräch. Mach mit – und bring Menschen zusammen!

Mehr Informationen

Rhea Braunwalder war seit 2017 massgeblich am Aufbau des Netzwerks Erzählcafé beteiligt – zunächst als Projektleiterin und Moderatorin, anschliessend bis März 2025 als Co-Geschäftsführerin. Im Interview mit Vanda Mathis blickt sie auf ihre Erfahrungen in dieser Zeit zurück.

Wie bist du zum Netzwerk Erzählcafé gekommen? Was hat dich damals motiviert, Teil dieses Projekts des Migros Kulturprozents zu werden?

Nach meinem Studium in Ethnologie habe ich mich 2017 beim Migros-Kulturprozent initiativ beworben, weil mich ihre Projekte im Bereich Soziales dynamisch, farbig und lebendig erschienen. Da in meinem Lebenslauf das Stichwort «Erzählcafés» aufgeführt war, luden sie mich für ein Gespräch ein, und stellten mir das Pilotprojekt «Netzwerk Erzählcafé» vor, von dem ich davor nie gehört hatte. So begann ein lehrreiches Praktikum mit Schwerpunkt im Projekt Erzählcafé. Meine erste Aufgabe war es, den Leitfaden «Erzählcafés veranstalten» mitzuverfassen, welches wir übrigens jetzt noch in erneuerter Auflage verwenden. Als das Praktikum fertig war, entschied ich mich für ein Mandat für die weitere Mitarbeit im Projekt.

Wenn du auf die letzten Jahre zurückblickst – welche Meilensteine waren aus deiner Sicht besonders wichtig für das Netzwerk?

Ein wichtiger Meilenstein war 2019 das erste Treffen der Romandie in Lausanne. Damit gelang es uns, den Schritt zum nationalen Netzwerk zu machen. Das Tessin kam 2020 dazu. Ein weiterer Meilenstein war 2023 die Publikation des Buches «Erzählcafés: Einblicke in Praxis und Theorie» unter Herausgeberschaft von Gert Dressel, Johanna Kohn und Jessica Schnelle.

Gab es bestimmte Wendepunkte oder Phasen des Umbruchs oder Aufbruchs?

Aufbruchsstimmung vermittelte uns die erste Finanzierung durch Gesundheitsförderung Schweiz 2020. Eine wichtige Anerkennung war für mich auch, als das Format Erzählcafé 2022 auf die Orientierungsliste der Kantonalen Aktionsprogramme Alter (KAP) aufgenommen wurde.

Inwiefern hat sich das Verständnis von «Erzählcafé» über die Jahre verändert?

Vor allem auch über das Buchprojekt habe ich gemerkt, dass es Varianten in der Durchführung von Erzählcafés im DACH-Raum gibt. Ich würde sagen, die schweizerische Ausprägung mit einem moderierten Erzählteil, gefolgt von einem informellen Kaffeeteil, wie es von Johanna Kohn gelehrt wird, hat sich im Netzwerk gefestigt. In den 10 Jahren des Bestehens des Netzwerks ist es uns gelungen, das Format in bestimmten Kreisen bekannter zu machen, obwohl in anderen Bereichen das Format noch gänzlich unbekannt bleibt.

Gibt es ein oder zwei besonders eindrückliche Momente oder Begegnungen, die dir bis heute in Erinnerung geblieben sind?

Eindrücklich war für mich das 5. Werkstattgespräch 2019, das wir zum Thema «Erzählen-Zuhören-Resonanz erfahren» veranstalteten. Mit der Einladung des renommierten Soziologen Hartmut Rosa zog das Netzwerk Teilnehmende aus der Schweiz, Österreich und Deutschland an. Dies führte zu viel Anerkennung und natürlich einem grossen Motivationsschub für das Team.

Was ich in meiner ganzen Zeit beim Netzwerk sehr geschätzt habe, ist die Zusammenarbeit im Team. Alle stehen mit Herzblut hinter der Sache. Dieses Engagement meiner Kolleginnen und Kollegen war für mich immer spürbar.

Was hat dich im Laufe der Zeit am meisten berührt oder inspiriert?

Wenn ich die ersten Jahresrückblicke anschaue – 2018 umfasste er drei Seiten, 2024 bereits 15 – dann wird mir bewusst, wie sehr wir gewachsen sind und was wir alles erreicht haben!

Welche Rolle spielt das Erzählen für dich persönlich – hat sich deine Sicht darauf verändert?

Erzählcafés sind ein eher langsames Format, es geht um biografisches Erzählen und wertfreies Zuhören. Jedes Mal, wenn ich das erleben durfte, wurde mir das Lernpotential bewusst: Man kann aus den Erfahrungen anderer viel für das eigene Leben mitnehmen. Die persönlichen Geschichten machen auch Konstanten deutlich, man erkennt sich in eigenen Erzählungen plötzlich wieder und sie legen viele individuelle Ressourcen offen. Diese Ressourcenorientierung ist für mich ein zentrales Merkmal von Erzählcafés: Wie hat jemand eine Situation bewältigt, wie erzählt sie davon?

Welche Herausforderungen sind dir in den Jahren begegnet – sei es im Netzwerk, in der Organisation oder bei einzelnen Erzählcafés?

Nicht ganz einfach ist die Frage, wie man die Bekanntheit des Formats Erzählcafé fördern kann. Wie und wo findet man Teilnehmende? Wie bringe ich Personen dazu, es einfach einmal auszuprobieren? Denn nur so lässt sich wirklich erleben, welches Potential das Format hat. Herausfordernd ist sicher auch der Übergang von einer vollständigen Finanzierung durch den Migros Kulturprozent zu einer eigenständigen finanziellen Basis. Dieser Prozess ist noch am Laufen.

Gab es auch Momente des Zweifelns oder Fragens – und was hat dich dann motiviert weiterzumachen?

Zweifel kommen schon auf, wenn jemand ein Erzählcafé organisiert – und es kommt niemand. Aber die vielen positiven Rückmeldungen, die es von gelungenen Erzählcafés gibt, motivieren uns weiterzumachen. Für mich persönlich blieb es spannend, weil ich immer wieder neue Dinge gefunden habe, die ich anders oder besser machen konnte.

Welche Wirkung hat das Projekt deiner Meinung nach auf die Teilnehmenden, aber auch auf die Gesellschaft?

Menschen haben ein Mitteilungsbedürfnis, und manche haben leider nicht wirklich gute Zuhörende im Umfeld. Das Erzählcafé gibt Teilnehmenden das Gefühl, gehört zu werden. Und die Teilnehmenden können viel voneinander für das eigene Leben lernen. Ich sehe Erzählcafés als eines von verschiedenen Formaten, die den Dialog und Austausch in einer Gesellschaft fördern können.

Was hat sich durch das Netzwerk in deinem beruflichen oder privaten Umfeld verändert?

Persönlich habe ich viel gelernt. Vor allem das nationale, dreisprachige Umfeld, die Weiterbildungen zur Erzählcafé und Art of Hosting Moderatorin und der Austausch mit verschiedenen Projekten des Migros-Kulturprozents haben meine berufliche Weiterentwicklung Richtung Soziales, Gesundheitsförderung und Freiwilligenarbeit stark geprägt.

Was wünschst du dir für die Zukunft des Netzwerks?

Mit der Vereinsgründung 2022 war es zuerst wichtig, neue, zielführende Strukturen zu bilden. Die bestehen inzwischen und funktionieren gut. Für mich stellt sich nun die Frage nach der Rolle der Vereinsmitglieder: Sollen alle Aktivitäten von der Geschäftsstelle ausgehen oder wollen wir die Ressourcen unserer Mitglieder besser nutzen im Sinne von peer-to-peer, zum Beispiel für den Austausch von Erfahrungen, der Organisation von Veranstaltungen? Können wir von ihnen freiwilliges Engagement erwarten?

Gibt es etwas, das du anders machen würdest – mit dem Wissen von heute?

Mit dem Wissen von heute würden wir wohl nichts anders machen – aber schneller entscheiden. Manchmal hat es lange gebraucht, bis wir wussten, wie wir vorgehen wollten.

Gibt es etwas, das du dem Netzwerk oder den Menschen, die heute dazukommen, mitgeben möchtest?

Ich wünsche allen ein herzliches Willkommen und dass sie mit Erzählcafés Spass haben und vom Wissen im Netzwerk profitieren können. Es ist sehr lehrreich, wenn man sich gegenseitig in Erzählcafés besucht und danach gemeinsam reflektieren kann. Und auch, dass der internationale Austausch mit unseren Partnern in Deutschland und Österreich, der seit Beginn besteht, weitergeführt wird.

Le premier café-récits organisé à la Bibliothèque de Montreux-Veytaux a suscité beaucoup d’intérêt et d’enthousiasme (Bibliothèque Montreux-Veytaux)

Das BiblioWeekend 2025 bot die Gelegenheit, Erzählcafés vorzustellen und die Bedeutung von Bibliotheken als gesellige Orte, die den sozialen Zusammenhalt fördern, hervorzuheben. Das Team der Bibliothek von Montreux-Veytaux entschied sich dieses Jahr dafür, ein erstes Erzählcafé zum Thema «Unsere Lesegeschichten» durchzuführen. Die Direktorin, Laure Meystre, drei Bibliothekarinnen und acht Leserinnen der Bibliothek nahmen daran teil. Im Anschluss stellte sich Laure Meystre einigen Fragen.

Das Gespräch führte Evelyne Mertens*

Dies ist das erste Erzählcafé, das in der Bibliothek von Montreux-Veytaux organisiert wurde. Was hast du erwartet?

Ich hatte vor allem Lust, mich überraschen zu lassen. Ich hatte mich nicht weiter mit der Frage beschäftigt, was passieren würde. Dann merkte ich jedoch, dass ich ein wenig verwirrt war, als die Nutzerinnen und Nutzer nach Informationen zum Erzählcafé fragten. Die Leute schienen sich vorbereiten zu wollen. Die Erklärung, die du mir im Vorfeld geschickt hast, war sehr klar, und ich habe das Gefühl, dass ich genau das erlebt habe. Es ist wichtig, in den Beschreibungen der Animation transparent zu sein, sonst kann es das Publikum abschrecken.

Das BiblioWeekend findet jedes Jahr auf nationaler Ebene statt. Was sind die Ziele der Bibliothek von Montreux-Veytaux?

Unser Ziel ist es, die Türen für die Öffentlichkeit zu öffnen und einen festlichen Moment zu organisieren, einen Moment mit verlängerten Öffnungszeiten, zu dem jedermann kommen kann. Wir bieten drei Tage (Freitag, Samstag und Sonntag), an denen die Bibliothek im Mittelpunkt steht. Einerseits zeigen wir, dass Bibliotheken nicht nur auf das Lesen ausgerichtet sind, sondern auch Orte des Lebens und der Sozialisierung für Gross und Klein sind. Zum anderen macht das BiblioWeekend auch den Behörden bewusst, was wir tun. Wenn alle Bibliotheken auf nationaler Ebene mitmachen, wird unser Animationsprogramm stärker wahrgenommen.

Ausserdem passte das diesjährige Thema perfekt, um ein erstes Erzählcafé zu moderieren. Jetzt, wo du selbst eines erlebt hast: Warum ist es für eine Bibliothek interessant, eine solche Veranstaltung anzubieten?

Das Konzept der Lebensgeschichte ist etwas, das mich anspricht. Es bietet die Möglichkeit, Beziehungen zu knüpfen. In einem Erzählcafé gibt man vor der Gruppe einen kleinen Teil seiner Geschichte preis. Einige Teilnehmende kannten sich, andere überhaupt nicht. Eine Frau, die Französisch lernt, schien sich wohl dabei zu fühlen, das Wort zu ergreifen, obwohl sie niemanden kannte. Die anderen hörten ihr zu. So werden zwangsläufig Beziehungen geknüpft. Vielleicht werden die Teilnehmenden, die in die Bibliothek kommen werden, eine andere Beziehung zu den Bibliothekarinnen haben, die anwesend waren. Jede Anekdote, die erzählt wurde, hatte eine Resonanz. Der Austausch brachte Erinnerungen zurück, die ich völlig vergessen hatte. Für mich ist es ein Moment der Selbstreflexion, aber gleichzeitig auch des Teilens und der Verbindung. Und das war in der Haltung der Teilnehmenden sichtbar.

Was war neu im Vergleich zu anderen Veranstaltungen, die in der Bibliothek angeboten werden?

So etwas haben wir noch nie gemacht! Und es ist sogar etwas ganz Verrücktes passiert: Während wir uns beim Kaffee austauschten, hat sich eine Lesegruppe gebildet. Das Erzählcafé war für einige Teilnehmende der Auslöser, um einen Leseclub in der Bibliothek zu organisieren. Eine Leserin sagte zu mir: «Kannst du dir das vorstellen? Ich bin gerade dabei, einen Freundeskreis aufzubauen.» Das finde ich erstaunlich. Thema des Erzählcafés war das Lesen, aber es hätte auch etwas anderes sein können. Wichtig ist, dass man etwas von sich preisgibt.

Ich merke es in jedem Erzählcafé, das ich leite, dass jede Person eine Geschichte zu erzählen hat. Man hat immer etwas zu erzählen, es gibt keine Fähigkeiten, die man haben muss.

Das Material ist bereits vorhanden, wir müssen nichts vorbereiten. Man braucht nur ein paar Stühle. Es ist ein supereinfaches Konzept, das man umsetzen kann. Das ist es, was ich so toll finde: Man kommt so, wie man ist. Es gab Teilnehmende mit ganz unterschiedlichen Hintergründen. Das bedeutet, jeder kann mit seiner Geschichte kommen, die alle den gleichen Wert haben. Das ist aussergewöhnlich, ich habe Gänsehaut. Wir organisieren einen Philo-Workshop, der gut funktioniert, aber wir bleiben bei philosophischen Themen. Im Erzählcafé geht es um etwas, das mit Entdecken zu tun hat. Das war für uns etwas völlig Neues.

Ein Problem mit der Kommunikation rund um das Erzählcafé ist, dass man es selbst erlebt haben muss, um wirklich zu verstehen, was es ist. Es ist kompliziert, diesen Moment zu erklären, in dem wir alle zusammen sind, einer Person beim Reden zuhören und dann schweigen. Das passiert im Alltag nicht.

Man muss einfach sagen: Komm, probiere es aus, du wirst sehen! Im Zeitalter der Smartphones, in dem jeder mit gesenktem Blick über einen Bildschirm kommuniziert, ermöglicht es, eine Form des Tête-à-Tête, des Zuhörens und des Respekts wiederzufinden.

Man lernt wieder zuzuhören. Das ist nicht selbstverständlich, aber die Erzählcafés geben mir Hoffnung. Das heutige Erzählcafé war auf 16-Jährige beschränkt, aber man kann die Generationen sehr gut mischen. Kinder haben sehr interessante Dinge zu erzählen, daher ist eine Altersgrenze nicht zwingend erforderlich.

Dies wäre eine gute Möglichkeit, generationenübergreifende Aktivitäten zu fördern. Ich hatte jedenfalls viel Spass bei der Teilnahme. Und die Freude ist noch grösser, weil ich gesehen habe, wie sehr es den Teilnehmenden gefallen hat. Ich denke mir, dass wir etwas beitragen konnten, das vielleicht Sinn macht. Manchmal frage ich mich, was ich in meinem kleinen Rahmen dazu beitragen kann, dass es der Welt ein bisschen besser geht. Das Erzählcafé kann dazu beitragen.

*Evelyne Mertens ist Praktikerin für Lebensgeschichten und Leiterin von Erzählcafés. Sie unterstützt die Westschweizer Koordination des Netzwerks Erzählcafé.

 

Das Biblioweekend ist eine nationale Veranstaltung, welche die Wahrnehmung der Bibliotheken in der Öffentlichkeit und bei den politischen Behörden fördern soll. Jedes Jahr steht ein Wochenende lang das Programm aller Schweizer unter einem bestimmten Motto. Die diesjährige Ausgabe, die vom 28. bis 30. März 2025 stattfand, widmete sich dem Thema «Worte verbinden Welten / Les mots relient les mondes / Le parole uniscono i mondi». Lesen, schreiben, zuhören, erzählen – Worte dienen in erster Linie dazu, unsere Erfahrungen zu teilen. Es gibt kein besseres Thema, um ein punktuelles Erzählcafé in einer Bibliothek zu organisieren.

Bibliothek von Montreux-Veytaux

Wir freuen uns, für unser neues Projekt «Erzählcafés im Alter» auf die finanzielle Unterstützung der Walder Stiftung und der Paul Schiller Stiftung, Zürich zählen zu können:

  • Die Walder Stiftung fördert Projekte, die zu einer optimalen Lebens- und Wohnqualität im Alter beitragen.
  • Die Paul Schiller Stiftung, Zürich unterstützt gemeinnützige Projekte, die eine nachhaltige Entwicklung anstreben, eine integrative Gesellschaft fördern, multiplikative Wirkung haben, aktuell und im allgemeinen Interesse sind.

In den nächsten zwei Jahren werden wir mit relevanten Organisationen im Altersbereich die Erzählcafés in den Pilot-Regionen verankern.

Vom 22. Januar bis 28. November 2024 präsentiert Pro Familia Svizzera italiana eine Fotoausstellung mit dem Titel «Familien – die Vergangenheit erforschen, die Zukunft erfinden». Die Ausstellung macht an den grösseren Orten des Tessins Halt und erzählt die Geschichte und die Entwicklung der Familie im Laufe der Jahre. Damit werden die Errungenschaften der Schweizer und Tessiner Familienpolitik gewürdigt.

Text: Valentina Pallucca Forte
Fotos: privat

Als ich von der Fotoausstellung hörte, packte ich die Gelegenheit, als Rahmenveranstaltung ein Erzählcafé vorzuschlagen. Wir wählten das Thema «Die Rollenverteilung innerhalb der Familie», das ich interessant und breit genug fand, um uns gegenseitig Geschichten aus dem Leben zu erzählen. Am 16. April 2024 trafen wir uns in einer kleinen Gruppe von sieben Frauen im Filanda in Mendrisio zum Erzählcafé.

Das Thema erwies sich als herausfordernd, aber auch inspirierend: Vieles hat sich im Laufe der Zeit verändert – und so vieles muss sich noch verändern. Die Anekdoten und Lebensgeschichten waren vielfältig: Die Teilnehmerinnen erzählten von sehr unterschiedlichen Lebenswegen, die alle auf ihre eigene Weise überraschten.

Fotos bieten Inspiration fürs Gespräch

Zur Inspiration wandelten wir durch die Fotoausstellung und verweilten vor den Fotos. Dabei konnten wir wichtige Momente in der Geschichte der Familie nachvollziehen: die Entstehung der ersten Sozialversicherungen um 1900, der Eintritt der Frauen in die Arbeitswelt in den 1920er Jahren, die Einführung der Waschmaschine in jedem Haushalt… Alles sind kleinere oder grössere Revolutionen, die das Alltagsleben der Familien vereinfachten. Jedes Foto regte zum Erzählen an und erinnerte an Episoden aus dem Familienleben einer Zeit, die es heute nicht mehr gibt (Anmerkung der Autorin: Das löste sogar einige Male einen Seufzer der Erleichterung aus!).

Sandra Killer, Projektkoordinatorin von Pro Familia Svizzera italiana, begleitete uns mit grosser Begeisterung und Kompetenz durch die Fotoausstellung. Die Fragen schienen kein Ende zu nehmen, so gross war unsere Neugier auf einige der Themen, die mit der Entwicklung der Familien und insbesondere der Rolle der Frau zusammenhängen.

Wie sieht die Familie in Zukunft aus?

Am Ende des Erzählcafés haben wir uns mit der Frage «Welche Zukunft sehen oder wünschen wir uns für die Familien?» beschäftigt. Jede Teilnehmerin kam zu Wort. Obwohl sich die Situation im Vergleich zu vor einigen Jahrzehnten deutlich verbessert hat, taucht das Thema der Vereinbarkeit von Beruf und Familie heute in einer wichtigen Weise auf: ein Thema, bei dem es oft die Frau ist, die die Hauptlast trägt. Wir waren uns einig: Für die Zukunft erhoffen wir uns mehr Unterstützung für die Vereinbarkeit und eine noch gerechtere Verteilung der Aufgaben. Wir sind zuversichtlich, denn es wurde viel erreicht und wir haben grosses Vertrauen in unsere Töchter und Söhne.

Es war schön, ein paar Stunden mit Menschen zu verbringen, die wir nicht kannten, mit denen wir ein kleines Stück unserer Geschichte teilten, mit denen wir Gemeinsamkeiten oder ganz unterschiedliche Lebensgeschichten entdeckten und uns in einer anregenden und ungezwungenen Umgebung austauschten. Wie immer war das Erzählcafé eine bereichernde und in diesem Fall sogar eine prägende Erfahrung, da wir viele Aspekte des gesellschaftlichen Lebens in unserem Land kennenlernen konnten, die uns bis anhin unbekannt waren.

Fotos und Videos aus dem Archiv

  • Die Fotoausstellung läuft vom 22. Januar bis 28. November 2024. Mehr Informationen
  • Auf historiahelvetica.ch lässt sich herrlich in vergangenen Zeiten schwelgen. Die Plattform zeigt ein Jahrhundert Schweizer Geschichte in Bildern und Videos.

Das Netzwerk Erzählcafé und Migros-Engagement bieten im Rahmen der #Freundschaftsinitiative eine Reihe von Erzählcafés zum Thema «Freundschaft» an. Natalie Freitag, die das Netzwerk Erzählcafé in der Deutschschweiz koordiniert, hat mit Silvia Hablützel gesprochen. Die erfahrene Moderatorin aus Appenzell Ausserrhoden erzählt, was ihr persönlich Freundschaft bedeutet.

Interview: Natalie Freitag
Foto: zVg

Natalie Freitag: Silvia, was bedeutet Freundschaft für dich? Wie wichtig ist dir Freundschaft?

Silvia Hablützel, Fachfrau Pflege und Gesundheit und Moderatorin aus Herisau: Sie ist mir sehr wichtig. Menschen sind mir sehr wichtig. Begegnungen, Austausch haben, zusammen durch die Höhen und Tiefen des Lebens gehen. «Es sind die Begegnungen mit Menschen, die das Leben lebenswert machen»: Dieses Zitat von Guy de Maupassant sagt für mich sehr viel aus.

Hast du eine langjährige Freundschaft? Oder eine ganz neue? Wie und wo kam es zu diesen Freundschaften?

Es gibt alte Freundschaften, die zu einer bestimmten Zeit des Lebens für mich sehr wichtig und intensiv waren, zum Bespiel aus der Zeit der Ausbildung, als wir zusammen Visionen und Träume teilten. Ich habe aus dieser Zeit drei Freunde*innen, die mich durchs Leben begleitet haben. Durch sie habe ich auch meinen Mann kennengelernt, als wir gemeinsam Trauzeug*innen waren an der Hochzeit einer dieser Freundinnen. Mit alten Freunden verbinden mich Geschichten, Erlebnisse und Erfahrungen. Das schweisst zusammen. Es gibt aber auch neue Freundschaften in meinem Leben – das Neue, einander kennenlernen und entdecken können, das ist spannend. Es gibt auch Freundinnen, die ich lange Zeit nicht sehe und keinen Kontakt habe, dennoch bleibt die emotionale Verbindung gegenseitig bestehen und wir wissen, dass wir jederzeit füreinander da sind.

Gab es auch Freundschaften, die mit der Zeit auseinandergingen?

Das gab es auch. Eine Freundschaft endete abrupt, von viel Kontakt zum totalen Kontaktabbruch. Schmerzliche Erfahrungen und Trennungen gehören eben auch zum Thema Freundschaften.

Bist du eine gute Freundin? Was tust du dafür?

Ja, das würde ich sagen. Ich habe ein offenes Ohr, habe Zeit, bin da. Zuhören, laut denken und eine Sparring-Partnerin sein, die auch kritisch ist – im Sinne eines Angebots, Beständigkeit, Vertrauen und Pflege der Beziehung durch Zeichen geben, z.B. Briefe schreiben. Und was mir ganz wichtig ist, zusammen zu lachen.

Erzähl uns noch etwas über dich und deine Arbeit mit dem Erzählcafé!

Seit vier Jahren führe ich in Herisau, Heiden und Stein im Kanton Appenzell Ausserrhoden Erzählcafés durch. Dies im Rahmen meiner Anstellung bei Pro Senectute. Erzählcafés bieten die Möglichkeit, einen Teil meines Auftrags für die Gesundheitsförderung im Alter zu erfüllen. Austausch und Gemeinschaft zu ermöglichen, gegen die Einsamkeit. Es entstehen daraus Begegnungen, manchmal Freundschaften. Man kennt sich im Dorf, wenn man sich trifft, geht zusammen auch Kaffee trinken. Was mir ganz besonders gefällt, ist die Tiefe, die Intensität, die im Erzählcafé möglich wird. Man kommt jemandem in nur ein bis zwei Stunden nahe und teilt sehr Persönliches.

Was ist deine Geschichte, die dir spontan in den Sinn kommt zum Thema Freundschaft?

Das ist eine schöne Geschichte: Es war an einem Erzählcafé zum Thema «auf den Hund gekommen». Eine Frau hatte ihre Nachbarin spontan mitgenommen, da ihr Hund gerade an diesem Morgen eingeschläfert werden musste. Es war auch ein Mann anwesend, dem Hunde sehr wichtig waren. Die beiden lernten sich dort kennen und sind heute ein Paar. Jetzt haben sie sich gerade zusammen einen jungen Hund zugelegt.

Zur Person

Silvia Hablützel ist erfahrene Erzählcafé-Moderatorin. Sie ist Pflegefachfrau HF/BScN und Leiterin des kantonalen Programms «Zwäg is Alter» bei Pro Senectute AR. Suchen Sie eine Moderation für Ihr Erzählcafé? Hier finden Sie Kontakte.

Prof. lic. phil. Johanna Kohn (im Bild) wird im Frühjahr 2024 eine inspirierende Weiterbildung für Moderierende anbieten. Johanna ist Professorin an der Fachhochschule Nordwestschweiz, Mitgründerin des Netzwerks Erzählcafé und eine Koryphäe im Bereich der biografischen Erzählformate. Die Weiterbildung in zwei Modulen und einer Praxisphase richtet sich an Moderierende, die künftig andere Moderierende in ihrer Region begleiten oder Erzählcafé-Einführungskurse anbieten möchten.

Johanna Kohn (Bild: FHNW)

Daten:

Wir starten mit dem ersten Modul am 12./13. Februar 2024 in Olten. Das zweite Modul findet am 24. Mai 2024 online statt. Danach begleitet die Kursleitung Sie für ca. ein Jahr.

Infos:

In diesem Flyer finden Sie alle Informationen zur neuen Weiterbildung.

Kursleitung:

Johanna Kohn mit Unterstützung von Rhea Braunwalder und Natalie Freitag.

Ihre Vorteile:

  • Sie bekommen das Rüstzeug, um eigene Erzählcafé-Einführungskurse in Ihrer Region anzubieten und Moderierende auszubilden.
  • Sie entwickeln Ihre eigene Projektidee und werden dabei von der Kursleitung und der Gruppe unterstützt.

Vergünstigter Preis von CHF 400.- für:

Anmeldung:

Wir freuen uns, wenn Sie mit dabei sind und sind überzeugt, dass diese Weiterbildung Sie auf Ihrem persönlichen Weg als Moderator*in weiterbringt.

Am 15. September 2023 feierte die Schule in Poschiavo den Internationalen Tag der Demokratie. Alle neun Klassen, bestehend aus etwa 130 Schülerinnen und Schülern, versammelten sich zusammen mit ihren Klassenlehrpersonen und einigen Mitgliedern des Jugendparlaments zum Erzählcafé. Es drehte sich um die verschiedenen Facetten der Demokratie. Catia Curti, Leiterin der Sekundarstufe I der Schulen von Poschiavo, teilt ihre Eindrücke von diesem besonderen Tag.

Die Atmosphäre an diesem Freitag, dem 15. September, war geprägt von «Stärke, Intensität und einem Gefühl der Befreiung». So beschrieben die Schülerinnen und Schüler der Mittelschule von Poschiavo das Erzählcafé zum Thema Demokratie. Über anderthalb Stunden lang führten sie lebhafte Gespräche, diskutierten leidenschaftlich, manchmal wurde es laut, und hin und wieder flossen auch Tränen. Die Mitglieder des Jugendparlaments, Drittklässlerinnen und Drittklässler, die sich seit dem letzten Jahr für die Belange der Jugendlichen im Tal einsetzen, wählten ein facettenreiches Thema aus dem Bereich der Demokratie und präsentierten es den einzelnen Klassen.

Was heisst eigentlich Demokratie?

Die Themen reichten vom Recht der freien Meinungsäusserung bis hin zu persönlichen Erfahrungen von Jugendlichen, die sich in ihren Familien, Schulen oder Freundeskreisen nicht immer frei fühlen, ihre Meinung zu sagen und sie selbst zu sein. Es wurde über weltweite und innere Konflikte debattiert, über die wahre Bedeutung von Gleichheit und wie weit wir von ihrer vollen Verwirklichung entfernt sind, sei es im globalen Multikulturalismus oder in unserer kleinen, lokalen Realität. Die Diskussionen reichten von der Bedeutung der Wahl von Vertretern bis hin zur Wahl der Mitglieder des Jugendparlaments in der Schule und sogar zu Vorschlägen zur Förderung kultureller Initiativen im Unterricht. Die jungen Menschen überlegten auch gemeinsam, was als öffentliches Gut betrachtet wird und welche Pflichten jede und jeder Einzelne hat, um das zu bewahren und zu respektieren, was allen gehört.

Jede Klasse, jede Gruppe und jede*r Schüler*in hatten die Möglichkeit, ihre Gedanken und Gefühle auszudrücken. Sie sprachen über Themen, die sehr relevant sind, aber wenig zur Sprache kommen. Die Schülerinnen und Schüler haben das Gespräch mit grosser Reife und Überzeugung geführt. Das Erzählcafé war ein grosser Erfolg, und viele haben bereits gefragt, wann das nächste stattfinden wird.

Oft neigen wir dazu zu denken, dass das Plaudern in der Hektik des Alltags Zeitverschwendung ist. In Wahrheit handelt es sich jedoch um eine eine nützliche und gesunde Praxis. Es liegt in der Natur des Menschen, sich auszutauschen, Meinungen zu teilen und zu diskutieren. Und was ist dazu besser geeignet als ein Erzählcafé? Es ist eine wunderbare Form, um über das zu sprechen, was die Menschen glücklich und frei macht: Demokratie!

Catia Curti, Leiterin der Sekundarstufe I der Schulen von Poschiavo

Nino Züllig wanderte in jungen Jahren von Georgien nach Deutschland aus. Seit 2014 lebt sie in Basel und arbeitet als Dolmetscherin. Die Erzählcafé-Moderatorin führte mit HEKS beider Basel interkulturelle Erzählcafés durch. Menschen aus der Ukraine und Georgien haben über ihre Heimat und das Leben in der Schweiz gesprochen.

 

Erinnerst du dich an dein erstes Erzählcafé?

Nino Züllig: Ja klar! HEKS beider Basel wollte im Rahmen des Projekts AltuM – Alter und Migration älteren, zugewanderten Menschen Erzählcafés anbieten. Da ich schon länger für HEKS dolmetsche, wussten sie, dass ich Russisch spreche. Im Frühling 2022 war mein erstes Erzählcafé. Es kamen Geflüchtete aus der Ukraine und ein georgisches Ehepaar aus meinem Bekanntenkreis.

Warum habt ihr das Erzählcafé auf Russisch angeboten?

Viele Menschen in der Ukraine sind zweisprachig und sprechen neben der ukrainischen Muttersprache auch Russisch. In Georgien können sich meist die älteren Leute noch auf Russisch verständigen. Russisch bot sich als unsere gemeinsame Sprache an.

Wie fühlt sich ein Erzählcafé auf Russisch für eine Ukrainerin an?

Ich war mir bewusst, dass ich sehr vorsichtig sein muss, wenn ich ein interkulturelles Erzählcafé auf Russisch anbiete. Man kann die Politik nicht ignorieren. Normalerweise ist ein Erzählcafé etwas Entspanntes und Angenehmes. Bei meinem Setting schwingt der Krieg immer mit. Als Moderatorin muss ich viel Fingerspitzengefühl haben, damit das Gespräch im ruhigen, friedlichen Rahmen bleibt und die Leute sich wohlfühlen. Und zwar diejenigen, die gerne Russisch sprechen, als auch diejenigen, die die Sprache nicht mögen. Ich glaube, ich erfahre viel Akzeptanz, weil ich aus Georgien stamme und beide Seiten verstehe.

Was ist dein Tipp?

Oft kommt es vor, dass eine Ukrainerin während des Erzählcafés eine Nachricht von ihrem Mann im Krieg bekommt und abgelenkt ist. Ich verstehe, dass sie dann darüber reden will. Als Moderatorin muss ich darauf eingehen und es annehmen, aber dann doch zurück zum eigentlichen Thema finden. Das Erzählcafé soll ein Ort der Entspannung sein, wo man über etwas anderes reden kann. Mein Tipp an Moderierende: Das Thema langsam und vorsichtig wechseln.

Deine Lieblingsthemen?

Mein erstes Thema war «Ich in der Schweiz». Die Gruppe hat darüber sinniert, wie sie sich hier fühlen, wie es früher war und mit welchen Schwierigkeiten sie kämpfen. Ich habe dann ein anders Thema identifiziert: «Gut und günstig leben in der Schweiz». Da kam ein sehr ideenreicher Erfahrungsaustausch zustande. Als ich in den normalen Rhythmus kam, wählte ich auch fröhliche Themen wie «Schön und modisch».

An dein Erzählcafé kommen vor allem Menschen 55+. Was beschäftigt sie?

Die deutsche Sprache ist das Hauptthema. Ältere Menschen lernen nicht mehr so leicht. Je älter man wird, desto schwieriger ist Migration. Man kommt an einen Ort, wo man die Sprache nicht spricht, die Kultur nicht kennt, ins Ungewisse geht. Ich mache diese Erzählcafés von Herzen, weil ich die Sorgen der Menschen gut nachvollziehen kann.

Was hat dich am meisten überrascht?

Es gibt immer wieder Aha-Erlebnisse. Egal, wo die Menschen aufgewachsen sind, einige Dinge sind überall gleich. Wir haben einmal ein Erzählcafé mit Menschen aus der Schweiz, der Ukraine und Georgien durchgeführt. Dabei haben wir gemerkt, dass sie alle als Kind ähnliche Sachen gespielt haben und sogar ähnliche Lieblingsessen hatten. Mein Fazit: Die Welt ist klein, wir sind gar nicht so unterschiedlich.

Bild: Nino Züllig hat am Erzählcafé das Guetzlibacken zum Thema gemacht.

Zur Person

Nino Züllig studierte in Georgien Deutsch und zog schon jung nach Deutschland. 2014 folgte sie ihrem Mann nach Basel. Sie arbeitet als interkulturelle Dolmetscherin und veranstaltet regelmässig Erzählcafés. In ihrer Freizeit ist sie am liebsten mit ihrer Familie in der wilden Natur unterwegs.

Interkulturelle Erzählcafés

Seit 2022 bietet die HEKS Geschäftsstelle beider Basel im Rahmen des Projekts AltuM – Alter und Migration Erzählcafés an. Sechs interkulturelle Vermittelnde bildeten sich bei Johanna Kohn weiter und bieten seitdem Erzählcafés in verschiedenen Sprachen an. Im 2023 werden die Erzählcafés fortgeführt. Sie sind thematisch verknüpft mit anderen Angeboten von AltuM beider Basel.

 

Interview: Anina Torrado Lara

Das Netzwerk Erzählcafé war im Juni 2022 zu Gast im Schlossgarten Riggisberg. Die Erzählcafé-Moderatorin Nisha Andres erzählt, wie sie über Erzählcafés die Bewohnenden und die Dorfbevölkerung zum ungezwungenen Austausch an einen Tisch bringt.

Interview: Anina Torrado Lara

Im idyllisch gelegenen Schlossgarten Riggisberg leben rund 270 Bewohnerinnen und Bewohner.

Welchen Bezug haben Sie zu Erzählcafés?

Nisha Andres: Beim Schlossgarten Riggisberg haben wir bereits vor der Pandemie erste Erfahrungen mit Erzählcafés gesammelt. Deshalb hat es uns besonders gefreut, dass das Werkstattgespräch vom 2. Juni 2022 bei uns zu Gast war! Ich moderiere selber Erzählcafés und finde die Methode sehr gut geeignet, um sich ungezwungen zu treffen und Barrieren in den Köpfen abzubauen.

Wie tun Sie das im Schlossgarten?

Inklusion ist unsere Kernkompetenz. Der Schlossgarten ist nur eine kurze Entfernung vom Dorf Riggisberg entfernt und bietet viele Anknüpfungspunkte, um in Kontakt zu kommen: Vom Eggladen über das Restaurant Brunne bis zu Veranstaltungen wie dem Ostermärit, dem Open Air Kino oder dem Sommerfest bieten wir ein grosses Angebot. Unser Konzept ist darauf ausgelegt, Barrieren abzubauen. So kommen Schülerinnen und Schüler ganz selbstverständlich zum Schwimmunterricht, einige Kinder aus dem Dorf besuchen unsere Kita und wir bieten selber hergestellte Produkte auf den Märkten an. Einige Dorfbewohner*innen haben leider immer noch Hemmungen, mit Menschen in Kontakt zu treten, die vermeintlich anders sind.

Wie gehen die Bewohnenden mit diesen Barrieren in den Köpfen um?

Eine unserer Bewohnerinnen sagte einmal: «Es braucht einfach einen ersten Satz, ein erstes Lächeln, um Barrieren abzubauen.» Wir arbeiten jeden Tag daran, den Austausch aktiv zu fördern. Das gelingt auch an den Erzählcafés gut, denn sie ermöglichen es, eine höfliche, respektvolle und offene Kommunikation zu pflegen.

Was haben Sie vom Werkstattgespräch mitgenommen?

Es war ein sehr schöner Tag, an dem Inklusion auf einem hohen Niveau gelebt wurde. Es kamen so viele interessante Menschen und wir freuten uns über Gastbeiträge von Johanna Kohn und Gert Dressel. Mit dabei waren auch taubstumme Menschen mit Dolmetscher*innen, Personen im Rollstuhl und Bewohner*innen des Schlossgartens mit psychischen Erkrankungen. Einer der Bewohner sagte: «Ich hätte nicht gedacht, dass man mit taubstummen Menschen so intensiv ins Gespräch kommen kann! Ich habe realisiert, dass es noch andere Menschen mit einer Beeinträchtigung gibt.»

Ihr persönlicher Tipp fürs Erzählcafé?

Keine Angst davor haben, etwas Falsches zu sagen! Auch mir geht es manchmal so, dass ich unsicher bin. Ich möchte andere ermuntern, zu ihrer Unsicherheit zu stehen und ehrliche Gedanken zu formulieren. Nicht viel überlegen, sondern einfach fragen: «Ich bin mir gerade unsicher, wie darf ich dich nennen?» oder «Soll ich die Dolmetscherin oder die Person anschauen, die gerade redet?». Als Moderatorin habe ich auch die Aufgabe, den Elefanten im Raum anzusprechen. Dann sage ich manchmal: «Ich nehme gerade eine Irritation wahr, geht’s euch auch so?».

Der Schlossgarten Riggisberg war Gastgeber für die Werkstatttagung des Netzwerks Erzählcafé (Foto: Rhea Braunwalder)

Schlossgarten Riggisberg

Im Schlossgarten Riggisberg leben rund 270 Bewohner*innen mit einer psychischen und/oder körperlichen Beeinträchtigung. 350 Mitarbeitende sind beschäftigt. Die Bewohnenden können an einem Beschäftigungsplatz in den Betrieben mitarbeiten: Im Werkhaus werden Versände vorbereitet, Wahl- und Stimmunterlagen eingepackt oder Produkte fabriziert. Eine Gärtnerei pflegt die Liegenschaft und zieht Kräuter. Auch die Mitarbeit in der Küche, im Restaurant oder im Glaswerk werden geschätzt. Kreativität kann in Ateliers, der Manufaktur und in der niederschwelligen Arbeitsintegration gelebt werden.

Zur Person

Nisha Andres (Foto: zVg)

Nisha Andres ist seit 2016 Teil des Schlossgartens Riggisberg. Als Fachverantwortliche Beratung und Integration ist sie Ansprechperson für Bewohnende und Mitarbeitende, die herausfordernde Situation erleben. Nach ihrer Ausbildung zur Detailhändlerin bildete sie sich berufsbegleitend zur Sozialpädagogin weiter. Seit 2002 ist sie in verschiedenen sozialen Institutionen tätig. Sie hat viel Erfahrung im Umgang mit Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung, psychischen Erkrankungen und in palliativen Situationen.